Aktuelles
26.10.2021 - "MAXIM LEBEN - EIN ALTES KINO ERZÄHLT" - Digitalisierung statt Filmkopie rettet altes Kino

Bild v.l.n.r.: Rudolf Worschech, Leiter von epd Film, der das Filmgespräch moderierte, mit Alf Mayer, Journalist und Filmemacher, Regisseur Peter Heller und Thomas Frickel, langjähriger Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm.
Das Münchener Maxim-Kino hat in 105 Jahren bewegte Zeiten durchlebt: in den späten 70er- und 80er-Jahren als Zentrum alternativer Filmkultur des Politkinos. Gesellschaftskritische Dokumentarfilme feierten hier ihre Premiere. Später wurde es zu einer der Keimzellen des DOK.fest München, dessen Spielstätte es bis 2007 blieb. Mit der Digitalisierung verabschiedete sich jedoch der Zelluloid-Film aus dem Kinoalltag. Inzwischen wird es wieder von einem kinobegeisterten Frauenkollektiv als Stadtteilkino geführt.
Den Film, der am 26. Oktober 2021 im naxos-Kino lief, bezeichnete Journalist und Filmemacher Alf Mayer als Reflexion seiner eigenen Kindheit. Jedoch hatte er sich persönlich nicht kompetent genug gefühlt, bei der Rettung des Kinos zu helfen. Anders Regisseur Peter Heller, der einen Rettungsgedanken hegte, da er über Maxim-Filmmaterial aus 20 Jahren verfügte, „sodass etwas entstehen könnte“. Der alte Betreiber „Siggi“ sei zwar „ein verkorkster Typ“ gewesen, aber mit hohem Anspruch und ohne kommerziellen Hintergedanken: „Wir wollten Kinogeschichte zeigen“.
Laut Moderator Rudolf Worschech gab es vor Mitte der 1970er Jahre kaum Dokumentarfilme und somit auch keine Förderung. Daraufhin habe man zunächst in Süddeutschland eine Verleih-Genossenschaft gegründet, so Heller. Thomas Frickeln bestätigte, dass es sich um „politische Verleihe für Sonntag-Matineés“ handelte. So wurde 1980 ein Filmbüro in Hamburg gegründet, 1982 dann in Hessen mit dem Ziel, den Staat dafür zu gewinnen, dass diese Arbeiten ein Sprachrohr mit Förderung erhalten. So habe der Film über die Startbahn West in Hessen zunächst ohne Förderung laufen müssen, dafür aber mithilfe der Sammlungen bei den Teilnehmern. Parallel habe der Journalismus öffentlichkeitswirksam geholfen.
Dokumentarfilme hatten jetzt laut Worschech große Aufmerksamkeit erlangt, da sie zumeist gründlich recherchiert waren. Auch habe die Kritik „dankbar auf die ersten Festivals reagiert“. Doch dann habe die Kommerzialisierung eingesetzt: „Filme mussten Geld einspielen, Kleine sind dabei oft draufgegangen“. Die politischen, provozierenden Dokus der 1970er Jahre könne Heller „heute nicht mehr so machen“, da er „nicht mehr die Entschiedenheit der Bilder“ finde, sondern eher Hobby-Filme ohne Budget macht.
Worschech beklagte ebenso das Verschwinden der Magie alter Film-Apparate. Zahlreiche Gründungen fanden in den damaligen Studentenzeiten statt, von Leuten, die es glücklicherweise überall gab, die aber heute alt geworden seien. Gegenüber der Digitalisierung „stürzten die alten Sachen oft ab“, so Heller, aber die Sehnsucht nach dem Haptischen bestehe weiterhin. Immerhin hätten Studios Kopierwerke geschaffen.
Das Maxim ist inzwischen 50 Jahre alt. Am Ende wusste hier niemand mehr, wie die Elektrik läuft, welche Leitungen wo verlaufen. Ständig brauchte man Techniker von außen, die einen Blick nach innen werfen sollten. Aber keiner wusste Bescheid. „Heutzutage muss man ein Computerprogramm bedienen können, das ist nicht sexy“, meinte der Moderator. Eine normale Kinokopie erreicht niemals die Qualität eines digitalen Bildes, bestätigte Frickel. Auch gäbe es die ursprünglich politische Szene der Macher und Zuschauer nicht mehr, schloss Heller, „da ohne Förderung heute gar nichts mehr läuft“.
Rolf Henning
12.10.2021 - „JOAN BAEZ - HOW SWEET THE SOUND“ - Die „Queen of Folk“ und ihr Sound bewegen immer noch

Am 12. Oktober wurde im naxos-Kino die Joan Baez-Doku „How Sweet The Sound“ gezeigt. Der Film von Mary Wharton aus dem Jahr 2014 zeichnet die mehr als 60-jährige Karriere der „Queen of Folk“ und „Ikone des Protestsongs“ nach, die Anfang des Jahres ihren 80. Geburtstag feierte. Von ihren Anfängen in der Studentenszene in Cambridge Ende der 1950er Jahre bis zu ihren umjubelten Auftritten, die sie rund um die Welt führten. Ihre komplexe Beziehung mit Bob Dylan wird genauso behandelt wie ihr Engagement gegen Rassismus und Vietnam-Krieg. Weggefährten und Zeitzeugen wie eben Bob Dylan, aber auch Roger McGuinn oder ihr Exmann David Harris kommen zu Wort. Ein dichtes Porträt einer faszinierenden Künstlerin.
Die Vorstellung war sehr gut besucht und so entstand ein interessantes Filmgespräch der naxos-Moderatorin Hilde Richter mit Frank Selten von der Barrelhouse Jazzband und Thomas Waldherr, Musikjournalist und Amerika-Kenner. Frank Selten hat Joan Baez beim Ostermarsch 1966 persönlich kennengelernt, als die Barrelhouse Jazzband auf dem Demo-Zug spielte und Joan dazu tanzte. 2018 trafen sie sich wieder als beide – was für eine Fügung! – am selben Abend in der Alten Oper spielten. Joan Baez machte damals während ihrer Abschiedstour in Frankfurt Station. Selten erzählte von beiden Begegnungen und schilderte Baez als sehr freundlichen und nahbaren Menschen. Thomas Waldherr legte einen Schwerpunkt auf der Analyse der unterschiedlichen künstlerischen Konzepte von Baez und Dylan, die letzendlich irgendwann nicht mehr kompatibel waren. Joan Baez war politische Aktivistin und Interpretin gesellschaftlich engagierter Songs, Dylan dagegen Poet und Philosoph. Beide Konzepte, so Waldherr, haben ihre Berechtigung und Notwendigkeit.
19.10.2021 - 1. STIRBT DER DEUTSCHE WALD? 2. SOS-STADTWALD - „Eigentlich ein permanentes Waldsterben“

Bild v.l.n.r.: Filmgespräch mit naxos-Moderatorin Marianne Spohner, Regisseur Dr. Andrej Bockelmann, Dr. Tina Baumann, Abteilungsleiterin bei StadtForst Frankfurt, sowie Regisseurin Silke Klose-Klatte.
20. Oktober 2021,97 Prozent des Stadtwalds sind krank: Immer geringere Regenmengen und anhaltende Umweltsünden, verbunden mit mehreren Dürrejahren in Folge sind die Ursachen. Bereits 1982 war der Filmemacher Andrej Bockelmann in der Haardt (NRW), im Frankfurter Stadtwald und im Vogelsberg der Frage nachgegangen: „Stirbt der deutsche Wald ?" Der Zustand des Frankfurter Stadtwalds zwischen Großstadt und Europas viertgrößtem Flughafen hat sich seitdem zunehmend verschlimmert. Silke Klose-Klatte thematisierte in ihrer 2020-er Dokumentation „SOS-Stadtwald“ die Frage: Frankfurt ohne Stadtwald?
Während der rund 40-jährigen Zeitspanne zwischen beiden Filme habe sich im Stadtwald nichts wesentlich verändert: „Eigentlich ein permanentes Waldsterben“, so Filmemacher Bockelmann, trotz zahlreicher Försterexperimente zwecks bestmöglichem Ansatz zur Gesundung. Regisseurin Klose-Klatte war „entsetzt, wie sich der Wald verändert hat“. Mitverantwortlich dafür seien „viele künstliche Prozesse, die negativ auf den Wald eingewirkt hätten, so Tina Baumann vom Frankfurter StadtForst: „Wir forsten den sterbenden Nadelwald durch Laubwald auf, damit er gesundet“. Zwar habe man das Problem erkannt, jedoch würden die Schadeinwirkungen durch zu viele PKW, Flugzeuge, Bahnstrecken und Elektronik „einem Kampf gegen Windmühlen“ gleichkommen.
Die Prognose von 1982, es gebe künftig nur noch Bäume mit einer Lebenserwartung von maximal 30 Jahren, treffe heute nicht mehr zu, so Bockelmann. „aber die Dürre wird uns künftig schlimm belästigen“. Auch das Abgraben von Grundwasser aus dem Stadtwald für Frankfurt habe einen negativen Einfluss. Grundsätzlich wirkten heutzutage laut Baumann Komplexkrankheiten permanent auf den Wald ein. Negativ verstärkend hinzu kämen Rodungen, die extrem zum Klimawandel beitrügen, damit sich etwa der Frankfurter Flughafen immer weiter ausbreiten könne.
naxos-Moderatorin Marianne Spohner fragte eingangs die beiden Filmemacher nach den Gründen ihrer Dokumentationen. Klose-Klatte wollte eigentlich „einen aktuell tollen Wald im Frankfurter Stadtgebiet trotz Trockenheit und Corona“ zeigen. Bockelmann nannte die Ansätze zur Waldrettung unter der damals neuen Kohl-Regierung, die sich allerdings als „abgestorben“ hergestellt hatten. „Es war ein ganz normaler Auftrag für den Film, aber ich habe erst damals gelernt, in die Baumkronen zu blicken, um den Niedergang zu erkennen“.
Rolf Henning
5.10.2021 - „SCHLINGENSIEF – IN DAS SCHWEIGEN HINEINSCHREIEN“ - Kunstwerke in extremer Weise realisiert

Bild: naxos-Moderatorin Marianne Spohner während des Filmgesprächs mit dem Intendanten und Geschäftsführer Künstlerhaus Mousonturm, Frankfurt, Matthias Pees, und den Gästen.
Künstler-Enfant Terrible, Provokateur in Theater, Kino und Aktionen, international hoch geschätzt: Christoph Schlingensief starb 2009 mit 49 Jahren an Krebs. Der Dokumentarfilm „Schlingensief - In das Schweigen hineinschreien“ von Bettina Böhler ist ein Porträt, das sein 40-jähriges Schaffen (deutsch-) deutscher Geschichte umspannt, an der sich Schlingensief Zeit seines Lebens radikal abgearbeitet hat.
Er lief am 5. Oktober 2021 auf naxos.„Er war Katalysator seiner Projekte“, sagte Mousonturm-Chef Matthias Pees, der lange Jahre mit Schlingensief zusammengearbeitet hat, „er hat sich befähigt gesehen, seine Kunstwerke zu realisieren – und zwar in extremer Weise“. So sollten sich die Menschen, etwa in der Volksbühne, als Bestandteil eines Rituals mit Grenzüberschreitung erleben. Rituale beherrschten auch seine Operninszenierungen, zum Beispiel in Brasilien oder Afrika. Allerdings brauchten die jeweiligen Sänger lange, um zu verstehen, worauf sein Projekt abzielte. Dabei seien die Aufführungen „immer gut besucht“ gewesen, obwohl ein deutsches Vier-Buchstaben-Blatt permanent gegen ihn angeschrieben habe.
Warum sich Schlingensief in seinen Projekten so schrill präsentierte, fragte Marianne Spohner. Er habe lediglich Bilder von Brutalität geliefert, meinte Pees. „Diese Bilder sollten Brutalität lächerlich machen. Das Kettensägen-Massaker etwa ist eine Verhohnepiepelung von Horror“. Seine Aktionen hätten keinerlei Brutalität, sondern sollten diese der Lächerlichkeit preisgeben.
Ob denn die Filme auch so seien, wie Pees Schlingensief erlebt habe, fragte Spohner nach. Niemand habe so richtig gewusst, worauf man sich mit ihm eingelassen habe, meinte dieser. Die Zusammenarbeit sei teilweise „ein grauenvoller Ablauf“ gewesen, aber stets ein „hingebungsvolles Zusammensein unterschiedlichster Menschen“. Schlingensief sei eigentlich weder Theater- noch Filmregisseur, sondern Filmemacher gewesen. Und aus diesem offenen Arbeiten sei ein künstlerisches Werk entstanden. Nach jedem Projekt war für ihn abrupt Schluss gewesen, sodass er sich auf das nächste stürzen konnte.
Also Realität als Inszenierung, so Spohner. Laut Pees wollte Schlingensief dem Alltag mit einer Übersprungshaltung begegnen. Damit transformierte er die Realität zu etwas wie einem Kunstwerk. Auf diese Weise hätten diverse Abende von Aufführungen oftmals einen anderen Verlauf genommen.
Ernst sei es erst in seinen Interviews während seines Krankenhausaufenthalts kurz vor seinem Tod geworden: „Das war direkt und echt“, bemerkte Pees. Seit Beginn seiner Krankheit habe sich Schlingensief einer „existenziellen Überlebenskunst mit zunehmender Religiosität“ ergeben. Mit seinem aufklärerischen Theaterverständnis auf kultischer Basis habe er Richtung humanistisches Bildungsideal gestrebt. Insgesamt habe sich gezeigt, dass sein Motto „In einem Jahr berühmt oder tot“ sich dann doch durch seine Energie über viele Jahre hingezogen habe.
Rolf Henning
28.9.2021 - 1. GEBROCHENE HELDEN 2. BESUCH BEIM FEIND - Kriegsführung als saubere Filme inszeniert

Bild: Filmgespräch mit (v.l.n.r.) der deutschen Fernsehjournalistin und Filmemacherin Ingelis Gnutzmann, Dr. Niklas Schörnig, Wissenschaftlicher Mitarbeiterbei der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) und Sabine Müller-Langsdorf, Friedenspfarrerin der Evangelischen Kirche für Frankfurt/ Offenbach mit naxos-Moderator Andrej Bockelmann.
Für ihren Dokumentarfilm „Gebrochene Helden“ hat die Fernsehjournalistin und Filmemacherin Ingelis Gnutzmann junge US-Soldaten nach den Kriegen im Irak als Zeugen für amerikanische Kriegsverbrechen vor die Kamera geholt: Sie leiden an post-traumatischen Belastungsstörungen.
2002 gelang es Gnutzmann, den Irak zwei Wochen lang zu bereisen. Ihr Kamerateam erhielt Zugang zu Fabriken, die angeblich verbotene Waffen produzierten. Ihre Reportage „Besuch beim Feind“ belegt, dass diese Fabriken bereits von den UN-Inspektoren zerstört worden waren, sodass hier gar nichts mehr produziert werden konnte. Propagandalügen, Kriegsverbrechen und Umweltverwüstung begleiteten diesen Krieg.
„Der Golfkrieg 1991 war der erste Krieg der modernen Kriegsführung, sauber und steril von den Medien als Film inszeniert, ohne das Leid, den Schmerz und den Tod zu zeigen“, sagte Niklas Schörnig am 28.September 2021 im naxos-Kino. Das bestätigte die Regisseurin, sie habe z.B. von den 54 getöteten deutschen Soldaten in Afghanistan „gar nichts mitbekommen“. Ziel ihrer Filme sei es gewesen, darzustellen, was die USA im Irak mit der Bevölkerung angerichtet hätten. Erst nach ihrer Rückkehr in die USA hätten die drei gezeigten Soldaten im Verlauf ihrer Traumatisierung bemerkt, dass sie gezielt zum Töten eingesetzt worden waren. Aufgrund der Zensur gab es aber weder Bilder von den Opfern noch von den Tätern. Dazu zitierte Friedenspfarrerin Müller-Langsdorf einen traumatisierten deutschen Soldaten aus Afghanistan: „Wir können nur mit militärischen Mitteln den Krieg führen“. Und besonders berührt von den Filmen sei sie darüber, dass die meisten Einsatzkräfte unter 20 Jahre alt waren und vornehmlich aus der unterprivilegierten Schicht stammten.
Schörnig hob hervor, dass sich niemand weder für die Soldaten noch für die Zivilbevölkerung der anderen Seite interessiere, da „der Westen Kriege relativ schnell gewinnen kann“. Schwierig sei es, zerstörte Staaten nach einem Krieg wieder aufzubauen, meinte Gnutzmann. So sei der Irak vor dem Krieg aufgebaut gewesen. Zerstört wurde er möglicherweise, damit die USA dort ihre neuesten Waffen testen konnten und die Rüstungsindustrie Profite einfahren konnte. Kriege hätten keine Gewinner, hieß es demgegenüber aus dem Publikum, woraufhin Müller-Langsdorf „Frieden als die anspruchsvollste Aufgabe, die es gibt“ bezeichnete.
Der Regisseurin zufolge handelte es sich im Irak-Krieg um den Verstoß gegen internationales Recht. Deshalb müsse internationales Recht als Völkerrecht gestärkt werden. „Die USA können nicht mehr schalten und walten, wie noch vor ein paar Jahren“, unterstrich Schörnig, denn posttraumatischer Stress sei bei allen Beteiligten gleich hoch.
Rolf Henning
21.9.2021 - "DIE GÖTTER VON MOLENBEEK" - Glaube und Religion als Leitfunktion

Bild: naxos-Moderato Carola Benninghoven und ihr Gesprächspartner Veit Dinkelaker, Direktor Bibelhaus Erlebnis Museum Frankfurt.
„Eine Erziehung ohne Weltanschauung, Religion, Sprache oder Milieu gibt es nicht.“ Das sagte Veit Dinkelaker, Direktor Bibelhaus Erlebnis Museum Frankfurt, im Filmgespräch mit naxos-Moderation Carola Benninghoven. So habe Glaube und Religion ebenso eine Leitfunktion, wie sie Erwachsene gegenüber Kindern hätten. Vorausgegangen war der Dokumentarfilm „Die Götter von Molenbeek“ der finnischen Regisseurin Reetta Huhtanen. Darin macht sie Kindheitsfreundschaft und Sinngehalt des Lebens zum Thema.
Für die drei Sechsjährigen Aatos, Amine und Flo bedeutet das Brüsseler Viertel Molenbeek Heimat. Dort lauschen sie den Spinnen, entdecken schwarze Löcher und streiten sich darüber, wie man einen fliegenden Teppich steuert. Aatos beneidet Amine um seinen muslimischen Glauben und ist auf der Suche nach seinen eigenen Göttern. Seine Klassenkameradin Flo jedoch ist der festen Überzeugung, dass jeder, der an einen Gott glaubt, eigentlich nur verrückt sein kann. Als es einen terroristischen Bombenangriff der Dschihadisten in der Nähe gibt, macht sich die Gewalt der Erwachsenen auch in der verträumten Kinderwelt bemerkbar.
„Kinder entdecken die Welt in einem eigenen Raum, einerseits in einer Religion, andererseits in offenem Zweifel, aber eben auf kindlich Art“, so der evangelische Pfarrer. Kinder hätten klare Ansichten bezüglich Gott, meinte die naxos-Moderatorin. Daraufhin benannte Dinkelaker die von den Kindern gewählten Götter: Allah, Jesus, ein Gott in Finnland. Das parallel ausgeübte Bombenattentat erfahren sie nur als Radionachricht. Diese wirkt auf sie nahezu unverständlich, denn einer von ihnen bekommt davon einen hysterischen Lachanfall, ein Zeichen für Hilflosigkeit.
Insgesamt wirken die Freunde mit ihrer Auffassungsgabe, Fantasie und ihrem Wissensdurst so klug, dass ihr sehr junges Alter in den Hintergrund gerät. „Nach dem entwicklungspsychologischen Stufenmodell ist ihr Denken und Handeln altersgemäß“, meinte Dinkelaker. Zwar sei manches durch den Einfluss der Eltern nachgeplappert. Manches sei aber auch kreativ, wie etwa die Betrachtung ihrer Umgebung durch ein selbstgebasteltes Periskop oder die Identifizierung mit Hermes, Thor sowie einem Adler, die in der Phantasie der Kinder Gott seien. „Eine authentische Religion entsteht nur, wenn Kinder authentische religiöse Menschen erleben“, sagte Dinkelaker. Eine Familie ohne Religion sei eine Tragödie, eine mit zu viel Religion aber auch. Dabei bezog er sich auf eine Szene, die die Kinder bei einer islamischen Theologisierung zeigt.
Benninghoven sprach das Verhältnis der Kinder zum Tod an, indem sie auf deren hilflose Reaktion auf „explodierende Köpfe“ und eine Szene anspielte, in der sie sich als mit Papier eingewickelte Mumien verkleiden, die in der Badewanne auf den Tod warten. Das sei eine Verarbeitung von Gewalt, die sie in den Nachrichten gehört hatten. Reale Tote hingegen hätten sie nicht gesehen, meinte Dinkelaker. Sich einen Gott zu suchen, um Not auszuhalten und auszuschalten sei immer eine Möglichkeit zum Verarbeiten von Gewalt.
Rolf Henning
14.9.2021 - „KABUL, CITY IN THE WIND“ - Deutschland-Kino-Premiere im naxos: Kabul: Der Frieden ist gescheitert

Bild: Christina Budde vom naxos-Kino im Interview mit Regisseur Aboozar Amini.
Seit mehr als 40 Jahren bestimmt Krieg den Alltag in Afghanistan. Vor allem die Bedrohung durch islamistische Selbstmordattentate ist für die Menschen in der Hauptstadt Kabul allgegenwärtig. Der 2018 entstandene Dokumentarfilm Kabul, City in the Wind von Regisseur Aboozar Amini schilderte während seiner deutschen Kino-Premiere im naxos-Kino das Leben zweier Kinder und eines Busfahrers, die in der afghanischen Hauptstadt um ein bisschen Normalität kämpfen. Dem Teenager Afshin einerseits erklärt sein Vater, dass er nun „der Mann im Haus“ ist. Denn der Vater ist Ex-Soldat und muss Afghanistan aus Sicherheitsgründen verlassen. Parallel dazu zeigt Amini, wie Busfahrer Abas unter seiner Schuldenlast zu zerbrechen droht und sich mit Drogen betäubt.
Die Kombination von Bildern, Sprache und Hintergrundgeräuschen ging Moderatorin Christina Budde „unter die Haut“. Sie fragte, wie der Regisseur an die Protagonisten gelangt war. Er musste etwas ausholen und nannte die Zerstörung zweier Buddha-Statuen von Bamiyas sowie die Zerstörung der Twin Towers im Jahr 2001 als einen „Wendepunkt in meinem Leben“. Die Terroristen, damals bekämpft, regierten heute das Land. Und die Menschen dort zahlten unter anderem den Preis für die Auseinandersetzungen zwischen den USA und Russland. „Kein Mensch dort versteht, um welche Art von Krieg es sich überhaupt handelt“, sagte Amini. Insofern habe er nach Protagonisten gesucht, deren Blicke Ratlosigkeit und Hoffnung gleichermaßen ausdrückten: „Sie spiegeln das typische Afghanistan wider – emotional, begeistert, voller Trauer“. Hinzu kamen Finanzierungsprobleme für den Film, da er nicht dem „Mainstream-Geschmack“ entsprechen könnte.
Westkabul mit einem Bevölkerungsanteil von zehn Ethnien und 99 Prozent Hazara war das Hauptziel der Terroristen innerhalb der dreijährigen Produktionszeit, so Amini. Hauptziel, weil dort zahlreiche Schulen, Clubs, Vereine und Krankenhäuser beheimatet waren, eine Basis für Bildung und Weiterentwicklung von Kindern und Frauen, was die Terroristen am meisten fürchteten und deshalb zerstörten. Als Beleg zeigte der Regisseur „die umgebenden Hügel, die mit Gräbern bedeckt sind“. Anfangs hatte er auch auf ein junges Mädchen als Protagonistin für seinen Film gesetzt, aber deren Familie habe es „wohl aus Angst nicht zugelassen“. Für seinen Film und seine bewegenden Worte im Filmgespräch erhielt er großen Applaus von den zahlreichen Besuchern, der ihn optimistisch für seine anstehende Kino-Tournee durch Deutschland machte.
Bildung und Jobfindung für afghanische Frauen - Bild: Nadia Qani, Vorstandsvorsitzende vom Verein zur Förderung afghanischer Frauen ZAN e.V. (l.), und Eva Bitterlich von medico international.
Für den zweiten Teil des Abends hatte Christina Budde zwei mit dem Thema vertraute Gesprächspartnerinnen eingeladen: Nadia Qani, Vorstandsvorsitzende vom Verein zur Förderung afghanischer Frauen ZAN e.V., und Eva Bitterlich von medico international. ZAN wurde 2001 gegründet. Mit der Eröffnung einer Fotoausstellung „Frauen – Leben in Afghanistan“ 2002 in Frankfurt, die später auch in anderen Städten ausgestellt wurde, ging er mit seinen Zielen an die Öffentlichkeit: das Vermitteln von Sprachkompetenzen, EDV-Unterricht und politischer Grundbildung für Frauen der afghanischen Community in Frankfurt und Rhein-Main.
Eva Bitterlich ist koordinierende Referenten für Afghanistan bei medico international, einer Hilfs- und Menschenrechtsorganisation mit Sitz in Frankfurt. Die Organisation engagiert sich für die globale Verwirklichung des Menschenrechts auf Gesundheit. Dafür unterstützt sie Partnerorganisationen in Afrika, Asien und Lateinamerika. Zusammen mit Partnern leistet medico Nothilfe in Katastrophensituationen und unterstützt langfristig Projekte in den Bereichen Gesundheitsversorgung, Menschenrechte und psychosoziale Arbeit.
Qani zeigte sich erschüttert über die Lage Afghanistans seit der Machtübernahme durch die Taliban. „Der Frieden ist gescheitert“, sagte sie. Hoffnung mache ihr jedoch, seit 2017 rund 300 Frauen alphabetisiert und an die deutsche Sprache herangeführt zu haben. Bitterlich sagte, ihre Organisation wolle Armut, Not und Gewalt nicht nur lindern, sondern ihre Ursachen erkennen und überwinden. „Wir unterstützen Menschen, die Familien und Freunde durch Attentate und lange Kriegszustände verloren haben.“ Aktuell versuche man vor allem, Menschen aus Afghanistan zu evakuieren.
Rolf Henning
Es "Keimt" in der Nachbarschaft - 15.09.2021: "WENN EIN GARTEN WÄCHST" in der DENKBAR FRANKFURT


Als Kooperation zwischen dem naxos.KINO, dem Historischen Museum Frankfurt, dem, Stadtlabor Frankfurt, dem Filmmuseum und der DENKBAR im Rahmen der Ausstellungen "DIE STADT UND DAS GRÜN" zeigten wir den Dokumentarfilm "WENN EIN GARTEN WÄCHST" von Ines Reinisch aus dem Jahr 2014.
Der Film ... erzählt von dem heiteren Abenteuer einer Gruppe Nachbarn in Kassel, die ohne besondere Vorkenntnisse, aber mit viel Mut und Motivation erfolgreich eine fade, städtische Rasenfläche in eine öffentliche Gartenoase mitten in der Stadt verwandelt. Keiner der Nachbarn ist ausgebildeter Gärtner, aber sie probieren aus, stellen Fragen, machen Fehler, lernen daraus und erschließen sich durch ihren Gemeinschaftsgarten eine neue Welt, die auch gedanklich neue Horizonte bietet. Der Gemeinschaftsgarten auf dem Kasseler Huttenplatz wird für sie und für den Stadtteil ein voller Erfolg! Doch trifft das gemüsewachsende Treiben nicht auf behördliche Zustimmung. Die Erhaltung des Gartens wird zum Kraftakt.
Im Rahmen der Dokumenta 13 wurde die Nachbarschaft des Huttenplatzes als Kunstaktion aufgefordert, für den Zeitraum der Dokumenta eine Grünfläche kreativ-gärtnernd umzugestalten.
Was in der Theorie "Soziale Plastik" heißt konnten nun die Besuchenden der DENKBAR haut- und praxisnah erleben.
Die gärtnerde Nachbarschaft wurde unterstützt von Studierenden der Hochschule Kassel v. a. vom Studiengang Ökologische Landwirtschaft. Hierzu gehörte auch Ines Reinisch, die - aber eben auch als studierte Filmemacherin - die Chance zur Dokumentation sofort anging.
Eine so lebhafte Diskussion zu den Themenaspekten dieses Films habe ich bisher noch nicht erlebt.
Die halbstündige Pause zwischen Filmende und der Zoom-Zuschaltung der Filmemacherin wurde nicht etwa zum Essen und Trinken genutzt, sondern es wurde volle Pulle durch diskutiert.
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Katharina Böttger und Dr. Nina Gorgus vom Historischen Museum Frankfurt konnten hier zu allen Aspekten auf Frankfurt bezogen Antwort geben.

So vorgeglüht war das Interesse des Publikums keineswegs erschöpft als um 22:00 Uhr Ines Reinisch zugeschaltet auf der Leinwand erschien:

Nun wurden mit ihr vor allem die filmischen Elemente der Dokumentation diskutiert. Die Poesie des Films, die Schnitte und Übergänge, die komischen und dramatischen Elemente, die in einem spannenden Bogen gehalten sind.
Die Problematik eines Filmendes, wenn das Projekt gescheitert wäre, wurde abgewendet, da die Fortsetzung bis heute gegen alle bürokratischen Hemmnisse durchgesetzt werden konnte.
Und wer genau hingehört hatte, merkte: die Filmmusik ist eigens für den Film komponiert.
Gäste:
Katharina Böttger und Dr. Nina Gorgus vom Historischen Museum Frankfurt
Zugeschaltet per Zoom: die Filmemacherin Ines Reinisch
Moderation: Wolfgang Voss, naxos.KINO
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weiterführende Links:
- INES REINISCH
- HISTORISCHES MUSEUM
- STADTLABOR
"Notorious RBG" - Di, 07.09.: "RBG - EIN LEBEN FÜR DIE GERECHTIGKEIT"

„Ich verlange keine Vorteile für mein Geschlecht – alles was ich will ist, dass unsere Brüder ihre Füße aus unseren Nacken nehmen.“
Ruth Bader Ginsburg wurde am 15. März 1933 in Brooklyn, New York geboren. Ihre Eltern legten viel Wert auf Bildung. Sie war eine der wenigen Jura-Studentinnen der damaligen Zeit und mußte gegenüber dem Dekan begründen, warum sie einem Mann den Studienplatz wegnehme. Ihr Jurastudium hat sie als Jahrgangsbeste abgeschlossen...
„ I dissent“ – der stets scharf formulierte Widerspruch wurde zum Markenzeichen der Obersten Bundesrichterin Ruth Bader Ginsburg, die letztes Jahr im Alter von 85 Jahren gestorben ist. Ruth Bader Ginsburg hat die Welt für amerikanische Frauen verändert. Bis zuletzt stellte sie ihr Lebenswerk in den Dienst der Gleichberechtigung und derjenigen, die bereit sind, dafür zu kämpfen.
1993 wurde sie als zweite Frau an den Supreme Court der USA berufen und hielt dort bis zu ihrem Tod eisern die Stellung.
Im Filmgespräch mit der Rechtswissenschaftlerin Prof. Dr. Ute Sacksofsky konnten dann einige wichtige Wesenszüge des Wirkens Ruth Bader Ginsburgs herausgearbeitet werden:
Sie erreichte eine juristische Bewertung der Benachteilung von Frauen auf Grundlage der Verfassung analog zur Rassendiskriminierung.
Anders als es im Film scheint, war Ruth Bader Ginsburg nicht immer eine Ikone der Emanzipationsbewegung. Ausgebildet nach dem zweiten Weltkrieg geriet sie in die Zeit, da die zurückkehrenden Männer die alten Verhältnisse restaurierten - und später von der Frauenbewegung der 60er Jahre wurde sie auch nicht sofort als die pragmatische Revolutionärin gesehen und in ihrem sehr formalen Vorgehen wurde anfangs die eigentliche emanzipatorische Sprengkraft nicht wirklich erkannt.
Woher diese Kraft und dieses erstaunliche Durchsetzungsvermögen?
Ute Sacksofsky entwickelt dazu einige Thesen: Die enge Bindung an die Mutter und frühe Disziplin, extreme Schicksalsschläge, die es zu getalten galt, der wirklich passende Lebensgefährte. Nie zornig zu werden - sondern durchdacht und fleißig letztlich deutlich die Schlauere und Überzeugende zu werden.
Schließlich wurde ihr Weg zum Vorbild für die Jungen bis hin zur Pop-Ikone nachgezeichnet. Dies vor allem auch - weil Ruth Bader Ginsburg es verstand, wirklich brilliante Texte zu schreiben.
Hätte Ruth Bader Ginsburg nicht aus strategischen Gründen schon unter Obama zurücktreten müssen, um eine liberale Nachfolge zu sichern? Auch hier wurde diese Frage wieder einmal nur bei bei einer Frau gestellt - auch sei die überraschende Präsidentschaft D. Trumps nicht vorherzusehen gewesen.
Gefragt nach dem eigenen Entwicklungsgang erzählte Ute Sacksofsky von der ganz allmählichen Verbesserung des Geschlechterverhälnisses im juristischen Bereich, sodass heute mit 17% Frauenanteil an den Professuren wenigstens ein gewisses Maß an Sichtbarkeit erreicht sei und die gute Vernetzung untereinander Halt gebe.
Das wichtigste sei: dass die heutigen Frauen nicht mehr so unter der extremen Beobachtung und Bewertung stehen, immer anscheinend für das gesamte Geschlecht sprechen zu müssen.
Männerdomänen fangen an zu bröckeln, der Weg in die Chefetagen gelingt allerdings nur wenigen Frauen - noch gebe es analog zu den Juristen zu viele Alpha-Tier-Biotope wie z.B. Medizin und Architektur...

Moderatorin Christina Budde im Gespräch mit der Rechtswissenschaftlerin Prof. Ute Sacksofsky


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Wolfgang Voss, naxos.KINO
31.8.2021 Von der Poetisierung der Welt - Ein Leben für das Theater - Willy Praml zum 80.

Michael Weber (Theater Willy Praml) + Otmar Hiltzelberger (Filmemacher) + Willy Praml (Geburtstagskind) + Karin M. Ritz (Filmemacherin) + Carola Benninghoven (Moderation naxos.KINO)

Willy Praml, Karin M. Ritz, Carola Benninghoven




Fotos: Wolfgang Voss, naxos.KINO
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Am 31.August 2021 feierte Willy Praml seinen 80. Geburtstag - und zeitgleich das Jubiläum des 30jährigen Bestehens des Theaters Willy Praml, 1991 gemeinsam gegründet mit dem Schauspieler, Bühnen-und Kostümbildner und inzwischen auch Regisseur Michael Weber.
Damals noch ohne feste Bleibe - und ohne unser naxos.Kino! Beides kam später: die Naxos-Halle ab 2000, das Kino ab Oktober 2005, Dank der langjährigen Kontakte zwischen Willy Praml und dem naxos.Kino-Gründer Wolf Lindner.
Anlässlich dieses gleich vielfach zu feiernden und zu würdigenden Ereignisses wollte das naxos.Kino das auf passende Weise tun und präsentierte an diesem Abend gleich drei Filme, wie immer mit anschließendem Gespräch.
Den Anfang machte der Film 'Vom Wege ab' aus dem Jahr 2012, in dem die Regisseurin Karin M.Ritz in konzentriertester Form alles Typische über Willy Pramls Herangehensweise an Musik und Theaterprojekte beschreibt. Hier am Beispiel einer eigenen Version verschiedener, weniger bekannter Märchen der Gebrüder Grimm.
Märchen können, so Praml, als immer wieder neu erzählte Geschichte verstanden werden, sind Urformen der Literatur mit ihren ritualisierten Topoi - und faszinierten den studierten Literaturwissenschaftler seit jeher. Er habe - wie vermutlich nur wenige Menschen - wirklich alle Grimmschen Märchen gelesen!
Und wenn man als 'Gebrüder-Grimm-Preisträger' (Willy Praml im Jahr 1979) im Jubiläumsjahr der berühmten Märchensammler 2012 mit der Inszenierung von 'Vom Wege ab' einen neuen Blick auf die Grimmschen Märchen werfe, dann könne man auch mit einem größeren Interesse an einem solchen Theaterprojekt rechnen.
Karin M.Ritz erzählte von der besonderen Chance, die ihr das Theater Willy Praml für ihre filmische Hochschul-Abschluss-Arbeit ohne jede Einschränkung gab: sie begleitete die Theaterproduktion von den ersten Proben bis zur Premiere - und fühlte sich am Ende wie ein Teil der Theaterfamilie: diese persönliche Nähe bei gleichzeitiger Distanz zur Sache macht diesen 18-minütigen Film zu einem kleinem Kunstwerk.
Aber vor den Grimm'schen Märchen lag viel 'Buntes' auf dem Lebensweg des späteren Theaterprinzipals Willy Praml: er war Bundes-Referent für musische Bildung beim BdP in Berlin, später dann viele Jahre hauptamtlicher Mitarbeiter für Theater-und Kulturarbeit der Jugendbildungsstätte Dietzenbach: das hieß u.a. viel engagierte Arbeit mit Lehrlingen, jungen Langzeitarbeitslosen, Flüchtlingen, aber auch Laien-Schauspielern auf dem Land. Aufführungen an vielen verschiedenen Orten, bei deren Auswahl sich Willy Praml und Michael Weber als wahre Meister erweisen: sind es die Stücke, die zu originellen Orten 'gefunden' werden, oder sind es die ungewöhnlichen Orte (u.a. die Frankfurter Paulskirche, Bacharach und der Rhein, eine Tiefgarage, eine Scheune im Hessischen) die zu den Stücken gefunden werden? Am Ende der langen Suche nach einer dauerhaften Spielstätte stand dann überraschend die Naxos-Halle, die Willy Praml und sein Ensemble nicht mehr bereit waren, aufzugeben, obwohl die ersten Inszenierungen in dieser von Willy Praml so genannten 'Industrie-Kathedrale' quasi 'illegal', weil ohne richtigen Vertrag waren. Die Zuschauer ahnten davon nichts. Den ersten Vertrag gab es erst Anfang der 2000er Jahre.
Etwa zu diesem Zeitpunkt begann die Langzeitbeobachtung von Otmar Hitzelberger und dem Projekt 'Xenos auf Naxos' (2002/2003): die dokumentarische Begleitung eines europäischen Integrationsprojektes für (vor allem) migrantische junge Langzeitarbeitslose.
Unter fachlicher Anleitung erfahrener Meister entkernen die jungen Leute die verwahrloste Industrie-Halle Naxos, lernen dabei die unterschiedlichsten Gewerke im Handwerksbereich kennen - und können einmal pro Woche 'Theaterarbeit' mit Willy Praml und seinen Schauspielern machen: für viele Projektteilnehmer eindeutig die größere Herausforderung als die zum Teil wirklich schwere körperliche Arbeit. Am Ende des Xenos-Projekts steht eine fast aufgeräumte Halle mit neuen Fenstern und teil-gereinigten Wänden - aber auch ein Theaterstück: 'Die Nibelungen' - und bis dahin immer neue Auseinandersetzungen zwischen den nicht nur geduldigen Theaterleuten und den jungen Migranten. Die Frauen der Gruppe halten, so Willy Praml, bis zur Premiere durch, finden Freude und Selbstbestätigung in der Theaterarbeit, die jungen Männer nicht. Das Projekt wird nach einem Jahr nicht fortgesetzt.
Viel interessanter Stoff also für einen Dokumentarfilm. Für den Film am Geburtstagsabend hat das naxos.Kino eine eigene, quasi journalistische Kurzfassung des im Original weit über eine Stunde dauernden Filmes 'Xenos auf Naxos' erstellt, mit der zunächst verständlicherweise skeptischen Zustimmung des Regisseurs Otmar Hitzelberger. Wie schön, dass ihm unsere Filmversion am Ende sogar gut gefiel.
Aber ohne diese komprimierte Form hätten wir dieses quasi historische Dokument: die Entkernung und Wandlung der Industrie-Halle Naxos hin zum Theater Willy Praml - und gleichzeitig seine Arbeit mit Laien nicht zeigen können.
Denn zum Abschluss des Geburtstagskino-Abends wollten wir noch Otmar Hitzelbergers langen Film 'Das 25.Jahr' präsentieren: eine echte Mammutaufgabe, denn hier werden fast alle Produktionen aus den Jahren 2015-2019 in den verschiedensten Phasen zwischen Leseproben, ersten Bühnenfassungen bis hin zu Premieren gezeigt.
Hitzelberger, seit seinen frühen Kontakten aus Lehrlingszeiten Willy Praml persönlich wie film-begleitend eng verbunden, zeigt in diesem Kaleidoskop aus Menschen-und Theaterbildern, Interviews und szenischen Ausschnitten den kongenialen Theatermenschen Willy Praml, in jedem Stück ein Kämpfer für Geschichtsbewusstsein und Haltung.
Und wie schon bei Karin M.Ritz wird auch hier deutlich: Nähe muss keine Belastung für ein Projekt sein, kann Gewinn sein, denn es gelingt Hitzelberger mit jedem Bild Willy Praml, den Theatermenschen zu zeigen, den Spracherfinder und -Erzieher, auch den Homo Politicus, nachvollziehbar für alle.
Dieser Kino-Abend sollte eine Hommage an unseren 'Gastgeber' in der Naxos-Halle sein, ein ehrliches Dankeschön für seine andauernde Unterstützung - mit noch hoffentlich vielen Jahren quasi gemeinsamer Kino-und Theater-Abende. Und der andauernden Freude und dem Interesse an der Arbeit der jeweils anderen Seite.
Willy Praml schien auch diesen letzten Teil seines langen Geburtstagsfestes zu genießen - er blieb bis zuletzt, obwohl wir nach diesem dritten Film keine weiteren Gespräche geplant hatten. Wie schön.
Carola Benninghoven
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Weiterführende Links:
- Auf Vimeo:

"Vom Wege ab" - Dokumentarfilm von Karin M. Ritz zum Theater Willy Praml, Grimm-Jahr 2012/13
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- Otmar Hitzelberger: OPEN LENS FILMPRODUKTION